Leistbares Wohnen war schon vor 100 Jahren ein Problem. Nach dem Ersten Weltkrieg musste das bankrotte Wien dieses Problem in einem ungekannten Ausmaß lösen. Das Rote Wien schaffte diese Herkulesaufgabe mit Gemeindebauten und Genossenschaftsbauten im großen Stil. Finanziert wurde die Wohnbauoffensive über Luxussteuern. Jahrzehntelang hegte, pflegte und erweiterte Wien die Gemeindebauten. Gleichzeitig widerstanden die Stadtregierungen dem Druck zur Privatisierung durch Hochfinanz, Immobilienwirtschaft und mit denen verhandelten nationalistischen und konservativen Bundesregierungen. Heute schießen überall in Österreich die Wohnkosten in die Höhe - nur nicht in Wien. Woran liegt’s? Man überlässt in Wean das Wohnen nicht dem Markt und das seit 100 Jahren.
Als „Rote Wien“ bezeichnet man die Zeit von Mai 1919 bis Februar 1934 als die Sozialdemokratie mit absoluter Mehrheit die Stadt regierte. Bereits vor dem Weltkrieg litten die Wiener unter Hungerlöhnen, miserablen Arbeitsbedingungen und sie hausten in zugigen, feuchten Kabuffs. Nach dem verlorenen Weltkrieg und dem Zerfall Österreich-Ungarns verschärfte sich die Lage zu einem Hungerwinter. Trotz dieser aussichtslosen Lage stellte das Rote Wien ein gewaltiges Wohnbauprogramm auf die Beine.
Spaziert man am Margaretengürtel und liest die Jahreszahlen auf den Gemeindebauten, dann kann sich jeder ausmalen, wie die Gemeindebauten in kürzester Zeit nach und nach hochgezogen wurden. Jeder Gemeindebau ist anders, aber sie teilen viele Gemeinsamkeiten: die Blockrandbebauung, die hofseitigen Eingänge, die öffentlichen Innenhöfe und kommunalen Einrichtungen, wie Kindergärten, Büchereien, Bushaltestellen, Waschsalons bis hin zu Zahnkliniken. Die gleichförmigen, einfärbigen Bauten gewinnen keinen Schönheitspreis, aber damals hatte man andere Sorgen und sie erfüllen ihren Zweck bis heute.
Wer mehr über das Rote Wien erfahren will, der besucht am besten den „Waschsalon Karl-Marx-Hof“. Das Museum beherbergt eine vielfältige Sammlung und die Guides führen mit viel Hintergrundwissen durch die Ausstellung und erzählen zahlreiche Anekdoten. Und bei den Stadtspaziergängen des Museums erlebt man die Geschichte des Roten Wiens auf der Straße und in den Innenhöfen der Gemeindebauten. Empfehlenswert für geschichtlich interessierte Laien, Aktivisten und Kommunalpolitiker.
Von den aktuellen Wohnbauprojekten besichtigen wir das Nordbahnviertel und die Seestadt Aspern. Bei beiden Stadtteilen betritt man eine Art Campus mit breiten Gehsteigen, schmalen Straßen, großen Parks und offenen Wohnblöcken. Bei den vielen Schaufenstern in den Parterre der Gebäude braucht es nicht viel Fantasie, um sich darin Restaurants, Cafes, Bars, Apotheken, Einzelhändler und andere Nahversorger vorzustellen. Die Mischung aus Gewerbe und Wohngebiet macht's! Reine Wohngebiete wirken Tagsüber verlassen, während reine Gewerbegebiete Nachts verlassen und somit bedrohlich wirken. Für das Wohlbefinden und das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ist das bedeutend.
Am Nordbahnviertel zeigt uns der Guide den Bildungscampus Gertrude-Fröhlich-Sandner am riesigen Rudolf-Bednar-Park. Der Bildungscampus beherbergt einen Kindergarten, eine Volksschule und eine Mittelschule, die man je nach Raumbedarf neu aufteilt. Jedes Jahr muss Wien 70 zusätzliche Volksschulklassen schaffen und begegnet diesem Wachstum mit Bildungscampus. Nur zum Vergleich: Im beschaulichen St. Ulrich am Pillersee (1.833 Einwohner) musste man im Sommer einen Verein ausquartieren, weil man im Herbst mehr Platz für die Volksschule brauchte.
Fährt man mit der U2 zur Seestadt hinaus, dann merkt man wie weit draußen das Wohngebiet liegt. Schon von weitem sieht man die Wohntürme aus dem Brachland in den Himmel ragen. Auch hier herrscht eine Campus-Atmosphäre. Zwischen den Wohnblöcken verlaufen breite Fußgängerwege. Eine Straße für Autos sehen wir keine. Wir fragen unseren Guide und der erklärt uns, dass die Parkplätze für die Anrainer weiter weg liegen als die Nahversorger. So will man Leute animieren diese Strecken zu Fuß zu gehen. Was macht man bei größeren Einkäufen? Haltezonen zum Ent- und Beladen gibt es. Noch wirkt die Gegend ein wenig leer, aber zwei Hörgeräteshops und ein Fantasy-Shop haben sich schon eingerichtet. Der künstliche See mit seinen Stränden lädt zum Planschen ein und der Rundweg bietet sich für Spaziergänger und Jogger an. Die Seestadt müsste eigentlich Bobos anziehen, aber denen ist es wahrscheinlich zu weit Draußen und daher gentrifizieren sie lieber die Innenstadt. Die Gebäude ragen weit mehr als fünf Etagen in die Höhe und man fühlt sich klein. Auch hier fehlen begrünte Fassaden, aber die Seestadt ist Vorbild für modernen Wohnbau in europäischen Metropolen.
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